Es sah aus wie ein Flugzeughangar. Er war so groß, dass Gants Taschenlampe nicht einmal stark genug war, bis zum anderen Ende hinüberzuleuchten. Aber sie konnte genügend erkennen.
Sie sah Wände. Von Menschen erzeugte Wände.
Stahlwände, mit schweren verstärkten Trägern, die eine hohe Aluminiumdecke stützten. Riesige gelbe Greifarme standen schweigend in dem Dämmer, bedeckt mit Eis. Halogenlampen zogen sich an der Decke entlang. Einige Metallträger lagen in merkwürdigen Winkeln auf dem Boden vor ihr. Gant sah, dass mehrere davon an den Enden eingerissen waren - sie waren entzweigebrochen worden. Alles war mit einer Eisschicht bedeckt.
Ihr zu Füßen sah Gant ein Stück Papier. Sie hob es hoch. Es war fest erstarrt, aber sie konnte den Briefkopf noch immer erkennen. Er lautete: ENTERTECH LTD.
Gant kehrte zu dem kleinen Tunnel zurück, der zur Haupthöhle führte. Sie rief Montana und Hensleigh herbei.
Wenige Minuten später wälzte sich Montana durch den waagrechten Spalt und ging mit Gant in den riesigen unterirdischen Hangar.
»Was zum Teufel geht denn hier vor?«, fragte er.
Sie betraten den Hangar und ihre Taschenlampen erzeugten Lichtsäulen. Montana ging links. Gant ging rechts.
Gant erreichte eine büroähnliche Struktur, die von Eis überwuchert zu sein schien. Die Tür zum Büro öffnete sich laut quietschend und langsam, sehr langsam. Gant trat ein.
Auf dem Fußboden des Büros lag ein Leichnam.
Ein Mann.
Er hatte die Augen geschlossen, und er war nackt. Seine Haut war blau angelaufen. Er wirkte, als würde er schlafen.
Auf der anderen Seite des Büros sah Gant einen Schreibtisch, sah etwas darauf liegen. Als sie auf den Schreibtisch zuging, erkannte sie, dass es eine Art Buch war, ein Buch mit Ledereinband.
Es lag da einfach ganz für sich auf dem Schreibtisch. Der übrige Schreibtisch war leer. Es war fast, dachte Gant, als ob es jemand absichtlich dort liegengelassen hätte, damit es das erste wäre, was ein Besucher fände.
Gant hob das Buch auf. Es war von einer Eisschicht bedeckt und die Seiten waren hart wie Karton.
Gant öffnete es.
Es war anscheinend eine Art Tagebuch.
Gant las einen Eintrag gleich am Anfang:
2. Juni 1978
Alles läuft gut. Aber es ist so kalt! Ich kann's nicht fassen, dass sie uns hier runtergebracht haben, nur damit wir einen verdammten Kampfjet bauen! Das Wetter draußen ist fürchterlich. Schneestürme ohne Ende. Gott sei Dank liegt unser Hangar unter der Oberfläche, so dass wir mit dem Wetter nicht in Berührung kommen.
Traurige Ironie an der Sache ist, dass wir die Kälte brauchen. Der Plutoniumkern des
Systems behält bei den kälteren Temperaturen länger seine Qualität...
Gant sprang zu einer Seite nicht weit vor dem Schluss des Tagebuchs weiter.
15. Februar 1980
Niemand kommt. Da bin ich mir jetzt sicher. Bill Holden ist gestern gestorben, und wir mussten Pat Anderson die Hände abschneiden, sie waren so erfroren.
Es ist jetzt zwei Monate her, seitdem das Erdbeben zugeschlagen hat, und ich habe jegliche Hoffnung auf Rettung begraben. Jemand hat gesagt, der alte Niemeyer hätte im
Dezember hier runterkommen sollen, aber er hat sich nie blicken lassen.
Wenn ich mich nachts zum Schlafen hinlege, frage ich mich, ob jemand außer Niemeyer weiß, wo wir sind.
Gant blätterte die Seiten durch, suchte etwas. Etwa in der Mitte des Tagebuchs fand sie das, wonach sie gesucht hatte.
20. Dezember 1979
Ich weiß nicht, wo ich bin. Gestern hatten wir ein Erdbeben, das größte verdammte
Erdbeben, das du je zu Gesicht bekommen hast. Es war, als ob die Erde sich geöffnet und uns einfach verschlungen hätte.
Ich war unten im Hangar, als es passierte, habe an dem Vogel gearbeitet. Zunächst begann der Boden zu zittern und dann brachen diese massiven Eiswände einfach durch den Boden und rissen den Hangar entzwei. Und dann schienen wir einfach zu stürzen.
Zu stürzen und weiter zu stürzen. Massive Eisbrocken des Eisschelfs (jeder so groß wie ein Gebäude, schätzte ich) brachen zu beiden Seiten in sich zusammen, während wir in die Erde hinabgesaugt wurden - ich sah, wie sie gewaltige Dellen ins Dach des Hangars drückten. BUMM! BUMM! BUMM! Das Beben musste ein gewaltiges Loch unterhalb der Station aufgerissen haben und wir sind einfach hineingefallen.
Wir rutschten einfach immer weiter hinab. Hinab und hinab. Bebend und stürzend.
Einet der großen Greifarme stürzte auf Doug Myers und hat ihn zerquetscht...
Gant war verblüfft.
Dieser »Hangar« war eine Eisstation gewesen.
Eine Eisstation, die unter äußerster Geheimhaltung errichtet worden war und dem Zweck gedient hatte, irgendein Flugzeug zu bauen - ein Flugzeug, wie Gant bemerkte, das Plutonium benutzte. Aber wie es schien, war diese Station ursprünglich auf der Oberfläche errichtet worden - oder vielmehr gerade unterhalb der Oberfläche, wie die Eisstation Wilkes -, bis ein Erdbeben sie unter die Oberfläche gesaugt hatte.
Gant blätterte zur allerletzten Seite des Tagebuchs vor.
17. März 1980
Ich bin der letzte Überlebende. Alle meine Kollegen sind tot. Es ist jetzt fast drei
Monate her, seitdem das Beben zugeschlagen hat, und ich weiß, dass niemand kommen wird. Mir ist die linke Hand erfroren und brandig. Ich spüre meine Füße nicht mehr.
Ich kann nicht mehr. Ich werde mich nackt ausziehen und auf das Eis legen. Es sollte nur wenige Minuten dauern. Wenn jemand dies hier in der Zukunft liest, so soll er wissen, dass mein Name Simon Wayne Daniels war. Ich war Spezialist für Flugzeugelektronik bei Entertech Ltd. Meine Frau Lily lebt in Palm-dale, obgleich ich nicht weiß, ob sie noch dort sein wird, wenn Sie dies lesen. Bitte suchen Sie sie und sagen Sie ihr, dass ich sie geliebt habe und dass es mir Leid tut, dass ich ihr nicht habe sagen können, wohin ich gegangen bin.
Es ist so furchtbar kalt.
Gant blickte den nackten Körper ihr zu Füßen an.
Simon Wayne Daniels.
Gant verspürte plötzlich Trauer für ihn. Er war hier allein gestorben. Lebendig begraben in diesem kalten, eisigen Grab.
Und dann explodierte urplötzlich Santa Cruz' Stimme in ihrem Helmsprechfunk und zerstreute ihre Überlegungen: »Montana! Fox! Kommt her! Kommt sofort her! Ich habe visuellen Kontakt mit feindlichen Tauchern! Ich wiederhole! Feindliche Taucher sind dabei, in der Höhle aufzutauchen!«
Das Team von SAS-Tauchern schwamm mit Hilfe von Scootern den Unterwasser- Eistunnel hinauf. Es waren acht und dank ihrer Scooter mit Doppelpropeller kamen sie im Wasser rasch voran. Alle trugen sie Schwarz.
»Basis. Hier ist das Taucherteam. Bitte kommen«, sagte der Kommandant in seinen Helmfunk.
»Taucherteam, hier ist Basis«, ertönte Barnabys Stimme über den Sprechfunk. »Berichten Sie!«
»Basis, es ist jetzt 19.56 Uhr. Tauchzeit seit dem Verlassen der Taucherglocke ist vierundfünfzig Minuten. Wir haben Sichtkontakt zur Oberfläche. Wir tauchen in der Höhle auf.«
»Taucherteam, seid vorsichtig! Wir haben Information, dass vier feindliche Agenten in dieser Höhle auf Sie warten. Ich wiederhole, vier feindliche Agenten warten in dieser Höhle auf Sie. Handeln Sie entsprechend!«
»Verstanden, Basis. Werden wir tun. Taucherteam, Ende.«
Gant und Montana kamen in die Haupthöhle zurückgejagt.
Sie rannten zu Santa Cruz, der das MP5 auf dem Stativ bemannte. Er zeigte in den Tümpel hinab.
Mehrere unheimliche schwarze Schatten waren zu erkennen, die durch das klare blaugrüne Wasser aufstiegen.
Die drei Marines gingen hinter verschiedenen Felsbrocken in Position, die MP5 in Händen. Montana wies Sarah Hensleigh an, sich hinter ihm zu halten und unten zu bleiben.
»Werdet nicht ungeduldig«, sagte Montanas Stimme über ihren Helmfunk. »Wartet, bis sie die Oberfläche durchbrechen. Es hat keinen Zweck, ins Wasser zu feuern.«
»Kapiert«, erwiderte Gant, als sie den ersten Schatten langsam durch das Wasser zur Oberfläche steigen sah.
Ein Taucher. Mit einem Scooter.
Er kam immer näher, bis er seltsamerweise knapp unter der Oberfläche anhielt.
Gant runzelte die Stirn.
Der Taucher war einfach dort stehen geblieben, etwa einen knappen halben Meter unter der Oberfläche.
Was tat er da...
Und dann schoss plötzlich die Hand des Tauchers aus dem Wasser und Gant erkannte sofort das Ding in seiner Hand.
»Stickstoffgranate!«, schrie Gant. »In Deckung!«
Der Taucher schleuderte die Stickstoffgranate und sie prallte auf den harten, eisbedeckten Grund der Höhle. Gant und die andere Marines duckten sich hinter ihre Felsen.
Die Stickstoffgranate explodierte.
Supergekühlter flüssiger Stickstoff bespritzte alles in Sichtweite. Die zähe, blaue, klebrige Flüssigkeit klatschte gegen die Felsen, hinter denen die Marines sich verbargen, spritzte gegen die Wände der Höhle. Einiges davon traf sogar das große schwarze Schiff, das in der Mitte der gewaltigen Höhle stand.
Es war das perfekte Ablenkungsmanöver.
Denn kaum waren die Stickstoffgranaten explodiert, da schoss auch schon der erste SAS-Soldat aus dem Wasser, das Gewehr an die Schulter gedrückt und mit dem Finger den Abzug durchgezogen.
Die Taucherglocke hatte die Oberfläche jetzt fast erreicht. Sie setzte ihre langsame Fahrt nach oben fort.
Ein zorniger Kommandant, der unter dem Einfluss von Wut oder Enttäuschung handelt, wird seine Einheit fast sicher in den Tod führen.
Trevor Barnabys Worte hallten in Shane Schofields Kopf wider. Schofield ignorierte sie.
Nachdem er erlebt hatte, wie Barnaby Book Riley an die Killerwale verfüttert hatte, war sein Zorn sehr heftig geworden. Er wollte Barnaby töten. Er wollte ihm das Herz herausreißen und ihm auf einem...
Schofield löste die Schnur um seine Taille und riss sich die beiden Kälteschutzanzüge aus den 60er-Jahren vom Körper. Dann packte er seine MP5 und schob ein neues Magazin ein. Wenn er Barnaby nicht tötete, dann würde er verdammt noch eins so viele von ihnen mitnehmen, wie er konnte.
Während er seine Pistole bereit machte, fiel Schofields Blick auf einen kleinen Samsonite-Koffer auf einem der Ablagefächer der Taucherglocke. Er öffnete ihn. Und erblickte im gepolsterten Innern eine Reihe blauer Stickstoffgranaten, wie Eier in einer Schachtel.
Der SAS musste ihn hier zurückgelassen haben, als er in die Höhle hinabgetaucht ist, dachte Schofield, als er eine der Stickstoffgranaten herausnahm und in seine Tasche steckte.
Schofield sah nach draußen. Wie es schien, waren die Killerwale für den Augenblick verschwunden. Einen kurzen Moment lang überlegte Schofield, wohin sie wohl verschwunden sein mochten.
»Was tun Sie da?«, fragte Renshaw.
»Das werden Sie sehen«, erwiderte Schofield, als er um den kreisrunden Tümpel an der Basis der Taucherglocke trat.
»Sie wollen da raus?«, fragte Renshaw ungläubig. »Sie werden mich hier zurücklassen?«
»Ihnen wird nichts passieren.« Schofield warf Renshaw seine Desert Eagle Pistole zu. »Wenn Sie kommen, benutzen Sie die.«
Renshaw fing die Waffe auf. Schofield bemerkte es nicht einmal. Er drehte sich einfach um und ohne einen weiteren Blick zurück auf Renshaw trat er vom Metalldeck der Taucherglocke und ließ sich ins Wasser fallen.
Das Wasser war nahezu am Gefrierpunkt, aber Schofield war das gleichgültig.
Er hielt sich an der Taucherglocke fest, stieg auf eine der Röhren an der Außenwand und zog sich auf das runde Dach.
Sie waren jetzt fast oben in der Station angelangt.
Sobald sie dort wären, überlegte Schofield, würde er, nachdem sie die Oberfläche durchstoßen hätten, das verheerendste MP-Feuer loslassen, das der SAS je zu Gesicht bekommen hätte - zu allererst auf Trevor J. Barnaby gerichtet.
Die Taucherglocke stieg im Wasser auf und näherte sich der Oberfläche.
Jede Sekunde, fetzt, dachte Schofield, als er seine MP5 packte.
Jede Sekunde...
Mit einem lauten Klatschen durchbrach die Taucherglocke die Oberfläche.
Und dort, obenauf stehend, sich am Winschkabel festhaltend, triefend vor Nässe, war Lieutenant Shane Schofield mit seiner gehobenen MP5.
Aber Schofield feuerte nicht.
Er wurde blass.
Über das ganze Deck E verteilt standen wenigstens zwanzig SAS-Soldaten in einem Kreis um den Tümpel und umzingelten die Taucherglocke.
Und alle hielten ihre Waffen auf Shane Schofield gerichtet.
Aus dem Südtunnel trat lächelnd Barnaby heraus. Schofield drehte sich um und sah ihn, und bei seinem Anblick verfluchte er sich selbst, verfluchte seinen Zorn, verfluchte seine Impulsivität, denn er wusste jetzt, dass er in der Hitze des Augenblicks, in dem nackten Zorn, den er nach Books Tod verspürt hatte, den größten Fehler seines Lebens begangen hatte.
Shane Schofield warf seine MP5 zum Deck hinüber. Klappernd schlug sie auf dem metallenen Deck auf. Die S AS-Soldaten fingen die Taucherglocke mit einem langen Haken ein und zogen sie durchs Wasser auf das Deck zu.
Schofields Verstand arbeitete wieder und zwar in kristallener Klarheit. In dem Augenblick, als er die Oberfläche durchbrochen und die SAS-Soldaten gesehen hatte, die ihre Waffen auf ihn gerichtet hielten, waren seine Sinne mit aller Gewalt zurückgekehrt.
Er hoffte verzweifelt, dass Renshaw sich in der Taucherglocke verborgen hielt.
Schofield sprang von der Taucherglocke herab und landete laut klappernd auf Deck E. Insgeheim stieß er einen Seufzer aus, als die SAS-Soldaten die Taucherglocke losließen, so dass sie wieder zurück in die Mitte des Tümpels treiben konnte. Sie hatten Renshaw nicht gesehen.
Zwei große SAS-Soldaten packten Schofield roh, hielten ihm die Arme hinter dem Rücken fest und schlugen ihm Handschellen um die Handgelenke. Ein weiterer SAS-Soldat durchsuchte Schofield gründlich und zog ihm die Stickstoffgranate aus der Tasche. Er nahm auch Schofields Maghook an sich.
Trevor Barnaby kam herüber. »Also, Scarecrow. Endlich treffen wir uns. Schön, Sie wieder zu sehen.«
Schofield sprach kein Wort. Ihm fiel auf, dass Barnaby seinen schwarzen Kälteschutzanzug trug.
Er hat vor, ein weiteres Team in die Höhle hinabzuschicken, dachte Schofield, und will selbst dabei sein.
»Sie haben uns aus der Taucherglocke heraus beobachtet, nicht wahr?«, fragte Barnaby grinsend. »Aber wir haben Sie ebenfalls beobachtet.« Lächelnd wies Barnaby auf einen kleinen grauen Apparat, der am Rand des Tümpels aufgestellt war. Er sah aus wie eine Art Kamera und war ins Wasser hinabgerichtet.
»Man lässt keine einzige Flanke unbewacht«, meinte Barnaby. »Gerade Sie hätten das wissen sollen.«
Schofield sagte nichts.
Barnaby schritt umher. »Wissen Sie, als man mir gesagt hat, dass Sie die amerikanischen Schutztruppen auf dieser Mission leiteten, hatte ich gehofft, dass wir eine Gelegenheit erhalten uns zu treffen. Aber dann haben Sie bei meiner Ankunft das Nest verlassen.« Barnaby hielt inne. »Und dann habe ich gehört, dass man Sie zuletzt gesehen hat, wie Sie in einem Hovercraft im hohen Bogen von der Klippe geflogen sind, und in dem Augenblick bin ich mir sicher gewesen, dass wir einander nicht mehr begegnen würden.«
Schofield sagte nichts.
»Aber jetzt, nun ja«, Barnaby schüttelte den Kopf. »Es freut mich so sehr, dass ich mich geirrt habe. Welches Vergnügen ist es, Sie wieder zu sehen. Es ist wirklich eine Schande, dass wir uns unter diesen Umständen treffen müssen.«
»Warum das?« fragte Schofield und ergriff zum ersten Mal das Wort.
»Weil es bedeutet, dass einer von uns sterben muss.«
»Mein Beileid Ihrer Familie«, meinte Schofield.
»Aha!«, sagte Barnaby. »Etwas Kampfeslust. Das gefällt mir. Das hat mir stets an Ihnen gefallen, Scarecrow. Sie haben Kampfeslust in sich. Sie sind vielleicht nicht der größte Stratege auf der Welt, aber Sie sind ein verdammt entschlossener Schweinehund. Wenn Sie etwas nicht gleich mitbekommen, dann setzen Sie sich hin und lernen es. Und wenn Sie sich im Hintertreffen sehen, geben Sie nie auf. So eine Art von Courage lässt sich heutzutage nicht kaufen.« Schofield sagte nichts.
»Nur Mut, Scarecrow! Um die Wahrheit zu sagen, Sie hätten diesen Kreuzzug nie gewinnen können. Sie hatten von Anfang an ein Handicap. Nicht einmal Ihre eigenen Männer waren loyal zu Ihnen.«
Barnaby wandte sich um und sah Snake Kaplan auf der anderen Seite des Tümpels an. Schofield drehte sich ebenfalls hin.
»Sie würden ihn gern umbringen, nicht wahr?«, meinte Barnaby, wobei er Snake anstarrte. Schofield sagte nichts.
Barnaby drehte sich um und kniff die Augen zusammen. »Sie würden es gern tun, nicht wahr?« Schofield blieb stumm.
Einen Augenblick lang schien Barnaby über etwas nachzudenken. Als er sich wieder Schofield zuwandte, war da ein Glitzern in seinem Auge.
»Wissen Sie was«, sagte er. »Ich gebe Ihnen eine Chance, genau dies zu tun. Eine faire Chance natürlich, aber dennoch eine Chance.«
»Was meinen Sie damit?«
»Nun, da ich Sie beide sowieso töten werde, habe ich mir gedacht, ich könnte es ebenso gut euch beiden überlassen zu entscheiden, wer an die Löwen verfüttert und wer auf zwei Beinen sterben wird.«
Eine Sekunde lang runzelte Schofield die Stirn, weil er nicht verstand, und dann sah er zum Tümpel hinüber. Er sah die hoch aufragende Rückenflosse eines der Killerwale durch das Wasser auf sich zukommen.
Die Killerwale waren zurückgekehrt.
»Lasst ihn los«, rief Barnaby den SAS-Soldaten zu, die Snake bewachten. »Meine Herren, zum Bohrungsraum!«
Die Hände fest auf dem Rücken gefesselt wurde Schofield den Südtunnel von Deck E hinabgeführt. Unterwegs kam er am Vorratsraum vorüber und warf einen verstohlenen Blick hinein.
Der Vorratsraum war leer.
Mother war verschwunden.
Aber Barnaby hatte zuvor nichts über Mother verlauten lassen...
Sie hatten sie nicht gefunden.
Die SAS-Männer führten Schofield den langen schmalen Korridor hinab und schoben ihn in den Bohrungsraum. Schofield stolperte hinein und fuhr herum.
Wenige Sekunden später wurde Snake in den Bohrungsraum geschoben. Ihm hatte man die Handschellen abgenommen.
Schofield sah sich im Bohrungsraum um. In der Mitte des Raums stand der große schwarze Apparat zum Herausbohren der Kerne. Er sah aus wie ein winziger Ölbohrer, an dem ein langer, zylindrischer Kolben in der Mitte eines schwarzen, skelettierten Bohrturms herabhing. Der Kolben, vermutete Schofield, war der Teil der Maschine, der ins Eis hinabbohrte und die Eiskerne herausholte.
Auf der anderen Seite dieser Maschine sah Schofield jedoch anderes.
Einen Leichnam.
Auf dem Fußboden.
Es war der zusammengeschrumpelte, blutbeschmierte Leichnahm von Jean Petard, unberührt, seitdem Petard vor mehreren Stunden von dem Hagelsturm der Schrappnelle aus seiner eigenen Claymore-Mine zerschreddert worden war...
»Meine Herren«, sagte Barnaby plötzlich von der Türschwelle aus. Es war der einzige Zugang zum Raum. »Sie werden um das Privileg kämpfen zu überleben. In fünf Minuten werde ich zurückkommen. Bei meiner Rückkehr erwarte ich, dass einer von Ihnen tot ist. Wenn nach dieser Zeit beide von Ihnen noch am Leben sind, werde ich Sie beide persönlich erschießen. Wenn andererseits einer von Ihnen tot ist, wird der Gewinner noch eine kurze Weile am Leben bleiben und auf etwas noblere Weise sterben. Irgendwelche Fragen?«
»Was ist mit diesen Handschellen?«, fragte Schofield. Seine Hände waren noch immer auf dem Rücken gefesselt. Snake hatte die Hände frei.
»Was ist damit?«, fragte Barnaby zurück. »Noch weitere Fragen?«
Es gab keine mehr.
»Dann tun Sie, wie es Ihnen beliebt«, meinte Barnaby, ehe er den Raum verließ, die Tür hinter sich zuzog und abschloss.
Schofield wandte sich sogleich Snake zu. »Na schön, hör zu, wir müssen uns einen Weg überlegen, wie wir...«
Snake rammte Schofield mit aller Kraft.
Schofield wurde glatt vom Fußboden gehoben und mit betäubender Gewalt gegen die Mauer hinter sich geworfen. Nach Atem ringend kippte er vornüber und blickte gerade rechtzeitig wieder hoch, um zu sehen, wie Snakes offene Handfläche auf sein Gesicht zukam. Er duckte sich rasch und Snakes Hand traf die Wand.
Schofields Gedanken rasten wie wild. Snake hatte gerade einen Standardnahkampf mit ihm angefangen - ein Schlag mit der offenen Hand, der dem anderen Burschen die Nase ins Gehirn drücken und ihn auf diese Art mit einem Schlag töten sollte.
Snake war darauf aus, ihn umzubringen.
In fünf Minuten.
Die beiden Männer standen noch immer eng voreinander, also zuckte Schofield hart mit dem Knie hoch und erwischte Snake zwischen den Beinen. Schofield sprang von der Wand weg. Sobald er von der Wand und von Snake weg war, sprang Schofield rasch hoch und holte die Hände mit den Handschellen nach vorn - unter den Füßen durch -, so dass sie jetzt vor seinem Körper waren.
Snake fiel in einem Wirbel aus Fußtritten und Hieben über ihn her. Schofield parierte jeden Hieb mit den gefesselten Händen, bis die beiden Männer sich trennten und einander umkreisten wie zwei Raubkatzen.
Schofields Gedanken
rasten. Snake würde ihn auf den Boden bringen wollen. Wenn er auf
den Beinen bliebe, wäre alles in Ordnung - weil er selbst mit
gefesselten Händen jeden Hieb von Snake parieren könnte. Aber wenn
sie beide zu Boden gingen, wäre alles vorbei. Snake würde ihm keine
Zeit lassen.
muss vom Boden weg bleiben...
muss vom Boden weg bleiben...
Die beiden Marines umkreisten einander - jeder auf einer Seite des schwarzen Bohrapparats in der Mitte des Raums.
Auf einmal schnappte sich Snake eine stählerne Stange vom Fußboden und schwang sie heftig Schofield entgegen. Schofield duckte sich zu spät und erhielt einen mächtigen Hieb auf die linke Kopfseite. Eine Sekunde lang sah er Sterne vor den Augen und verlor das Gleichgewicht.
Im Nu warf Snake sich quer durch den Raum, ging auf ihn los, griff Schofield ungestüm an und trieb ihn gegen die Mauer zurück.
Schofield schlug mit dem Rücken in einen Schalter an der Wand und auf der anderen Seite des Raums sprang plötzlich der senkrechte Kolben surrend an und drehte sich rasend schnell. Er gab ein schrilles Kreischen von sich, wie eine Kreissäge.
Snake warf Schofield zu Boden.
Nein!
Schofield schlug hart
auf dem Boden auf und wälzte sich sogleich herum...
... und sah, dass er Gesicht an Gesicht neben Jean Petard
lag.
Oder zumindest mit dem, was letztlich von Petards Gesicht übrig geblieben war, nachdem es von dem Feuerstoß der Claymore-Mine in Stücke zerrissen worden war.
Und dann, in diesem Augenblick - in diesem flüchtigen Moment -, erhaschte Schofield einen Blick auf etwas in Petards Jacke.
Eine Armbrust.
Schofield griff verzweifelt mit den gefesselten Händen nach der Armbrust. Er brachte die Hände um den Griff, bekam ihn zu fassen und...
... und dann packte ihn Snake und beide Männer rutschten über den Fußboden und knallten gegen die Bohrmaschine in der Mitte des Raums. Das Geräusch des herumwirbelnden Bohrers schrillte ihnen in den Ohren.
Schofield lag rücklings auf dem Fußboden. Snake kniete breitbeinig auf ihm.
Und in einem jähen Augenblick sah Schofield, dass er noch immer die Armbrust in der Hand hielt. Er blinzelte. Er musste sie festgehalten haben, als ihn Snake angegriffen hatte.
Genau in diesem Moment verpasste Snake Schofield einen zermalmenden Hieb.
Schofield hörte seine Nase brechen und sah das Blut aus seinem Gesicht explodieren. Mit dem Kopf schlug er gegen den Boden. Hart.
Alles drehte sich um ihn und einen flüchtigen Augenblick lang verlor Schofield das Bewusstsein. Auf einmal verspürte Schofield eine Woge der Panik - wenn er völlig das Bewusstsein verlöre, wäre dies das Ende. Snake würde ihn an Ort und Stelle umbringen.
Schofield öffnete wieder die Augen und das erste, worauf sein Blick fiel, war der herumwirbelnde Kopf der Bohrmaschine, der einen Meter über seinem Kopf schwebte!
Er war gleich über ihm!
Schofield sah die Führungskante des wirbelnden Zylinders - die scharfzackige Führungskante -, die Kante, die dazu diente, durch festes Eis zu schneiden.
Und plötzlich sah Schofield Snake vor den Kolben treten, das Gesicht verzerrt vor Wut, und dann sah Schofield, wie Snakes Faust auf sein Gesicht herabsauste.
Schofield versuchte, zur Verteidigung die Hände zu heben, aber sie waren noch immer gefesselt, festgenagelt unter Snakes Körper. Schofield brachte sie nicht hoch...
Der Hieb saß.
Ihm verschwamm alles vor den Augen. Schofield versuchte verzweifelt, durch den Dunstschleier etwas zu erkennen.
Er sah, wie Snake die Hand wieder zurückzog und sich auf das vorbereitete, was zweifelsohne der endgültige Hieb wäre.
Und dann erblickte Schofield etwas zu seiner Rechten.
Der Schalter an der Wand, der die Bohrmaschine in Gang gesetzt hatte. Schofield sah drei große runde Knöpfe auf dem Schaltbrett.
Schwarz, rot und grün.
Und dann sprangen ihm mit überraschender Deutlichkeit die Worte auf dem schwarzen Knopf ins Auge.
»LOWER DRILL«, Bohrkopf absenken.
Schofield sah zu Snake auf, sah den rasend schnell herumwirbelnden Bohrkopf über dessen Kopf.
Schofield konnte unmöglich Snake mit der Armbrust treffen, aber wenn er seine Hände leicht zur Seite drehen könnte, wäre er vielleicht imstande...
»Snake, weißt du was?«
»Was?«
»Ich habe dich nie leiden können.«
Und mit diesen Worten hob Schofield leicht die gefesselten Hände, zielte mit der Armbrust auf den großen schwarzen Knopf an der Wand und feuerte. Der Pfeil legte die Entfernung in einer Millisekunde zurück und...
... und traf den großen schwarzen Knopf genau in der Mitte - nagelte ihn an die Wand dahinter -, und gleichzeitig warf Schofield den Kopf aus dem Bereich der Bohrmaschine und des Bohrkopfs, der mit einer unglaublichen Schnelligkeit rotierte und sich rasch auf Snakes Hinterkopf herabsenkte.
Schofield hörte das Ekel erregende Knirschen brechender Knochen, als Snakes gesamter Körper - Kopf voran - vom Gewicht des Bohrkopfs heftig nach unten gerissen wurde, und plötzlich schnitt der Bohrkopf in grotesker Weise - wobei sein schrilles Summen den Raum erfüllte - direkt durch Snakes Kopf. Ein Strom dicker, rot-grauer Masse floss aus seinem
Schädel und dann, mit einem letzten Krack!, sprang der Bohrkopf auf der anderen Seite von Snakes Kopf wieder heraus und setzte seinen Weg hinunter in das Eisloch fort.
Noch immer ein wenig benommen vom Kampf hob Schofield sich auf die Knie. Er wandte sich von dem grässlichen Anblick von Snakes Körper ab, der unter der blutbespritzten Bohrmaschine festgenagelt war, und steckte schnell die Armbrust in seine Hüfttasche. Daraufhin fuhr er herum und suchte rasch nach irgendeiner Waffe, die er benutzen könnte...
Schofields Blick fiel sogleich auf den Leichnam Jean Petards, der neben ihm auf dem Fußboden lag.
Noch immer schwer atmend kroch Schofield hinüber und kniete daneben nieder. Er durchsuchte die Taschen des toten Franzosen.
Nach wenigen Sekunden zog Schofield eine Granate aus einer von Petards Taschen. Sie trug eine Inschrift: M8A3-MN.
Schofield wusste auf der Stelle, was es war.
Eine Blendgranate. Ein Blender.
Wie derjenige, den die französischen Soldaten früher an diesem Morgen benutzt hatten. Schofield steckte die Blendgranate in seine Brusttasche.
Die Tür zum Bohrungsraum sprang auf. Sofort ließ sich Schofield auf den Fußboden zurückfallen und versuchte, müde auszusehen, verwundet.
Zwei SAS-Soldaten stürmten mit gehobenen Gewehren in den Bohrungsraum. Trevor Barnaby schritt hinter ihnen her.